Es ist ein mystischer Ort, dort oben am Hühnerberg in Harburg, wo 1671 die Grafen von Oettingen fünf jüdischen Bürgern für 75 Gulden ein halben Morgen Land zuwiesen, um dort ihren Friedhof anzulegen. 1745 wurde dort ein Taharahaus – eine Leichenhalle – gebaut. Die Jahreszahl ist im Türbogen eingemeißelt.
Der Harburger „Gute Ort“, wie Juden im deutschen Sprachraum ihren Friedhof nannten, war ein Verbandsfriedhof, weil viele jüdische Gemeinden im Ries keinen eigenen Friedhof hatten. Nicht nur Juden aus Harburg, sondern auch aus Mönchsdeggingen, Ederheim und kurzfristig auch aus Alerheim bestatteten am Hühnerberg ihre Verstorbenen. Vielleicht war es aber auch die wunderbare Lage oberhalb der Harburg und direkt am Quellwasser, warum viele den Harburger Friedhof als letzte Ruhestätte für ihre Angehörigen wählten. Dass am Ende des Grundstücks ein Bach vorbeifließt, war für die Bestattungen sehr wichtig, denn die Juden wuschen ihre Toten vor der Beerdigung rein. Am großen Eingangstor des Friedhofes stand außerdem ein Wasserbehälter, denn zum israelischen Glauben gehört, sich die Hände vor und nach dem Friedhofsbesuch zu waschen.
Die jüdische Bevölkerung Harburgs litt im Laufe der Jahrhunderte immer wieder unter Grabschändungen und Plünderungen. 1744 wurden die hölzernen Grabmäler und die Holzumzäunungen des Friedhofs von durchziehenden Soldaten beschädigt. Zwar wurde der Friedhof daraufhin ummauert, um 1800, während der Napoleonischen Kriege zerstörten ihn französische Soldaten erneut. Im Anschluss wurde der Friedhof allerdings fast um das Doppelte erweitert und wieder ummauert. Diese Mauer steht bis heute.
Als 1831 die Cholera im Ries wütete, wurde die Durchfahrt des Leichenwagens nach Harburg verboten. Die Mönchsdegginger Juden legten daraufhin einen eigenen Friedhof an. Juden aus Ederheim wurden noch bis zum Jahre 1880 in Harburg beerdigt, danach löste sich das Judentum dort auf. Die wenigen Verbliebenen zogen nach Nördlingen um.
Seit über 100 Jahren kümmert sich Familie Thum um den Friedhof
Seit dem Jahr 1909 half der evangelische Harburger Konrad Thum seinen jüdischen Nachbarn und Mitbürgern bei den Grabaushebungen, denn wegen des steinigen und manchmal gefrorenen Bodens bedeutete das Schwerstarbeit, zumal ein jüdisches Grab in einem Tag ausgehoben sein muss und auch nicht länger als 24 Stunden offen stehen darf. 1934, ein Jahr bevor die Nationalsozialisten ihre antisemitischen und rassistischen „Nürnberger Gesetze“ ausriefen, übernahm Konrad Thums Sohn Friedrich die Aufgabe des Grabmachers. Denn die Thums gehörten nicht zu denjenigen, die Juden erst ausgrenzten, mieden und später ihre Häuser und Geschäfte schändeten. Die letzte Beerdigung auf dem Friedhof am Hühnerberg fand im Frühjahr 1938 statt. Der Harburger Stadtrat und Kurwarenhändler Julius Nebel (1857–1938) fand hier seine letzte Ruhestätte. Doch einen Grabstein konnten seine Angehörigen nicht mehr setzen, zwischen den anderen Gräbern ist eine Lücke. Daneben stehen die Grabsteine seines Cousins, der Viehhändler Moritz Nebel (1854–1914) und seiner Frau Sophie (1862–1936). Vier ihrer fünf Kinder konnten rechtzeitig nach Israel fliehen, ihre Tochter Dora ist kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges im Konzentrationslager umgekommen. Den letzten vier Nebels, die noch in Harburg lebten, gelang die Emigration nicht mehr. Pauline Nebel, geborene Hiller, das Ehepaar Fritz und Helene Nebel, und die Witwe Mathilde Nebel zogen von Harburg weg, bevor sie in den Konzentrationslagern Dachau, Theresienstadt und Auschwitz ermordet wurden.
Bis zum Ende des Krieges war es Friedrich Thum senior und seiner Frau Margarete untersagt, den Friedhof zu betreten. Als sie 1945 wieder zum Hühnerberg kamen, tat sich ihnen ein schreckliches Bild auf. Das Unkraut wucherte kniehoch, Dornengestrüpp umgürtete die Grabsteine. Der Wildwuchs verbarg allerdings nicht die Schändung der Gräber. Viele Marmorsteine waren abtransportiert, einige umgeworfen. Es dauerte Monate, bis die Thums die Grabfelder wieder gereinigt und vom hohen Gras befreit hatten. Bis heute ist die Pflege in den Händen der Familie Thum. Vor Jahren übernahm Friedrich Thum junior die Aufgabe seines Vaters: „Mein Vater sagte zu mir, dass ich den Friedhof weiterpflegen solle, wenn er es mal nicht mehr tun kann, denn die Harburger Juden waren gute Leute. Sie haben es verdient, dass man sich um ihre Gräber kümmert“, erzählt er.
Friedrich Thum kommt regelmäßig zum Friedhof auf dem Hühnerberg, mäht den Rasen und hält die Gräber sauber. Jedes Jahr kontaktieren ihn Juden aus der ganzen Welt, zum Beispiel aus den USA, aus Brasilien, aus Israel und der Schweiz, die auf ihren Reisen nach Deutschland die Gräber ihrer Vorfahren in Harburg besuchen wollen. Und tatsächlich: Auf einigen der jüngeren Grabsteine liegen kleine Kieselsteine, denn nach jüdischer Tradition werden die Gräber nicht mit Blumen geschmückt. Wer einen Stein auf ein Grab legt, will sagen: „Ich denke an dich!“