Interview

„Ich möchte der jüdischen Gemeinschaft eine Stimme geben“

" Der Antisemitismus ist nie ganz weggewesen" - Sigi Atzmon Bild: Mara Kutzner
Seit über 17 Jahren setzt sich Sigi Atzmon im „Freundeskreis Synagoge Hainsfarth e.V.“ für eine lebendige Erinnerungskultur und einen Dialog zwischen den Menschen ein. Sie wurde im Frühjahr dieses Jahres mit dem Bayerischen Verfassungsorden und dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Mit unserer Redakteurin Mara Kutzner hat sie sich in Hainsfarth getroffen und über jüdisches Leben in Deutschland, die Geschichte der Synagoge in Hainsfarth und ihr Engagement gegen Antisemitismus gesprochen.

Liebe Frau Atzmon, vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit für unser Gespräch nehmen. Wie immer beginnt unser Interview mit einigen kurzen Fragen. Wo kommen Sie gerade her und was hat Sie heute schon beschäftigt?

Sigi Atzmon: Die Synagoge in Hainsfarth, sie beschäftigt mich fast 24 Stunden am Tag.

Um Sie kennenzulernen, zunächst einige Entweder-Oder-Fragen.

Nördlingen oder Frankfurt?
Sigi Atzmon: Nördlingen.

Morgens oder abends?
Sigi Atzmon: Abends.

Zukunft oder Vergangenheit?
Sigi Atzmon: Die Zukunft!

Lassen sie uns doch etwas über Sie persönlich Wissen und sie besser kennenlernen

Wie und wo sind Sie aufgewachsen?
Sigi Atzmon: Ich bin Multi-Kulti. Aufgewachsen bin ich in Deutschland und für eine kurze Zeit auch in Israel.     

Geboren in Berlin, gelebt in Israel, gearbeitet in Frankfurt. Wie sind Sie eigentlich in Nördlingen gelandet?
Sigi Atzmon: Das war die Liebe!

Wie lange lebten Sie in Israel und warum?
Sigi Atzmon: Als Kind war ich nur kurz dort, später habe ich dann 17 Jahre lang in Israel gelebt, ich habe Familie dort. Aber es hat sich dann aus familiären Gründen ergeben, dass ich wieder nach Deutschland zurückgekommen bin.

Wenn Sie Gäste aus anderen Teile Deutschlands oder der Welt bei sich begrüßen, was zeigen Sie als erstes?
Sigi Atzmon: Die Synagoge hier in Hainsfarth, oder besser gesagt, das ganze Ensemble bestehend aus Synagoge, jüdischer Schule und Mikwe. Ich wohne zwar in Nördlingen, aber das zu zeigen, überlasse ich den Fachleuten. Ich kenne mich hier am besten aus!

Ihr Engagement wurde zuletzt hoch gewürdigt: Dankurkunde der Stadt Nördlingen, Silber Distel der Augsburger Allgemeinen, Bayerischer Verfassungsorden und schließlich das Bundesverdienstkreuz Am Bande- Und das nur innerhalb weniger Wochen und Tage. Herzlic

Was bedeuten ihnen diese Ehrungen?  

Sigi Atzmon: Als Jüdin in Deutschland bin ich sehr stolz, denn hier wurde die jüdische Stimme gehört! So ein Preis gehört einem aber nie allein. Es gab Menschen, die mich sehr unterstützt und auf diesem Weg begleitet haben.

Ihre Aufklärungsarbeit in Hainsfarth hat vor circa 16 Jahren begonnen. Wie kam es dazu? 

Sigi Atzmon: Das war eigentlich Zufall. Ich bin aktive Jüdin und wusste, dass es hier eine Synagoge gab. Die damalige, inzwischen verstorbene Bürgermeisterin, hat mich animiert. Den Freundeskreis hat es schon vorher gegeben, aber wir sind seitdem gewachsen. Gewachsen durch ein namhaftes Programm und weil wir Gesicht gezeigt haben. Zum Beispiel, als wir zusammen mit den Nördlinger Musikanten eine Veranstaltung zu Verfemter Musik gemacht haben. 

Wie wird die Synagoge heute genutzt? 

Sigi Atzmon: Für mich stand von Anfang an fest: Die Synagoge muss mit Leben gefüllt werden. Heute ist die ehemalige Synagoge eine Gedenk- und Begegnungsstätte. Die Hainsfarther Gemeinde nutzt dieses Gebäude auch für Trauungen und wir nutzen sie für Veranstaltungen, bieten Führungen für Schulklassen und alle interessierten Besucher an. Die Veranstaltungen müssen aber immer der Würde des Hauses angepasst sein. Wir sind gewachsen, man kennt uns inzwischen nicht nur im Ries, sondern auch über die Grenzen hinaus. 

Warum machen Sie all dies? 

Sigi Atzmon: Das Ziel ist es, hauptsächlich den Jugendlichen das negative Bild, das sie über das Judentum bekommen durch Gespräche und Diskussionen, reflektieren. Wir leisten Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus und Fremdenhass. In den politischen Diskussionen, die gerade stattfinden, kommt das Judentum und die jüdische Geschichte kaum vor. Ich möchte, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Das ist ein großer Schritt und wir sind ständig dabei, ihn zu gehen.

Landtagspräsidentin Ilse Aigner verlieh Sigi Atzmon im Februar 2024 den Bayerischen Verfassungsorden. Bild: Stefan Obermeier

Bei Bauarbeiten hat man 2015 eine alte Mikwe entdeckt. Es war auch ihr Verdienst, dass dieses Denkmal restauriert und erhalten wurde.

Können Sie uns erklären, was eine Mikwe ist und warum es ein Sensationsfund war?
Sigi Atzmon: Zu einer Synagoge gehört eine Mikwe. Es gab zwar eine weitere in Hainsfarth, in einem Wohnhaus, die nicht mehr erhalten ist. Ich war mir aber sicher, dass es hier noch eine andere Mikwe geben muss. Eine Mikwe ist ein Ritualbad und wir haben hier an der Fundstelle einen Nachbau als Denkmal. Hainsfarth kann sehr stolz sein, denn es hat die elementarsten Dinge einer jüdischen Gemeinde: Eine jüdische Schule, eine Mikwe, die Synagoge und einen jüdischen Friedhof.

Jüdisches Leben in Hainsfarth lässt sich bis in 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Was ist über die ehemalige jüdische Gemeinde bekannt?
Sigi Atzmon: Es war die größte jüdische Gemeinde im Ries. Hainsfarth wurde deshalb auch als Judendorf bezeichnet. Es gab hier jüdische Handwerker und Bürger. Es war eine lebensfähige jüdische Gemeinde!

Ihnen und Ihrem Verein wurde viel Hass, sogar Morddrohungen entgegengebracht. Sie brauchten zeitweise sogar Polizeischutz. Woher nehmen Sie die Kraft und den Mut, niemals aufzugeben?
Sigi Atzmon: Das Ziel ist es, nie aufzugeben. Wir wollen, dass ihr uns wertschätzt und wir schätzen euch wert! Und natürlich geht es mir darum, dieses Ensemble aus Synagoge, Schule und Mikwe mit Leben zu erfüllen.

Der Antisemitismus sei nie ganz weggewesen, haben Sie selbst einmal gesagt. Wie macht sich das bemerkbar?
Sigi Atzmon: Ja, der Antisemitismus ist nie ganz weggewesen und in den letzten Jahren erlebt die jüdische Gemeinschaft immer mehr davon. Es gibt Gesetze in Deutschland dagegen, und wenn man die angewendet hätte, wäre es nicht so weit gekommen. In Gesprächen kommt man eigentlich immer an den Punkt, an dem wir für die Politik des Staates
Israel verantwortlich gemacht werden. Natürlich steht Israel uns sehr nahe, aber ich lebe in Deutschland, wir sind Deutsche und so möchten wir auch angesehen werden.

Parteien wie die AfD schüren Hass und Hetze im Land. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nehmen zu und Begriffe wie „Remigration“ sind Gegenstand politischer Debatten. Macht Ihnen das nicht große Angst?
Sigi Atzmon: Angst habe ich nicht, aber ich mache mir Sorgen, was passiert, wenn wir diese Demokratie nicht schützen.

Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur: Die Hamas verübte einen schrecklichen Angriff auf Israel, über 1100 Menschen starben, rund 250 Geiseln wurden verschleppt. Seitdem herrscht wieder Krieg in Israel und Gaza.

Wie geht es Ihnen seitdem?

Sigi Atzmon: Nicht gut, die Welt schaut zu, wie die Hamas Menschen verschleppt, ermordet, vergewaltigt und immer noch sind 133 Menschen seit 194 Tagen in Geiselhaft. Alle Menschen wissen, dass in Kriegen immer wieder solche Situationen passieren können. Es ist fürchterlich, das war nicht Absicht, es ist leider passiert. (Anm. d. Red.: Am Tag unseres Gesprächs wurden Mitarbeiter einer Hilfsorganisation bei einem israelischen Angriff getötet). Der Aggressor in den Medien und in der Berichterstattung ist immer Israel. Nicht Israel hat Gaza überfallen, sondern Gaza hat Israel überfallen und das ist der große Unterschied in der Situation!

Hätten Sie sich mehr Solidarität aus der deutschen Gesellschaft erwünscht?
Sigi Atzmon: Ja, das hätte ich mir gewünscht. Die Evangelische Kirche in Nördlingen hat ihre Solidarität bekundet, wir haben ein Friedensgebet gemeinsam veranstaltet. Aber ansonsten war da eher weniger. Ja, ich hätte mir mehr Solidarität gewünscht.

Haben Sie Kontakt zu Freund*innen in Israel? Wie geht es ihnen?
Sigi Atzmon: Ja, Teile meiner Familie und meine Tochter leben dort. In keinem Haus in Israel geht es den Menschen gut! Es ist fürchterlich. Aber die Menschen dort sind sehr stark und sehr mutig.

Kann es jemals Frieden im Nahen Osten geben?
Sigi Atzmon: Es muss! Die Hoffnung stirbt zum Schluss. Wenn Politiker die Zwei-Staaten-Lösung fordern, muss man aber auch sehen, was die Menschen in dem Land wollen.

Haben Sie eigentlich schon mal mit dem Gedanken gespielt, erneut nach Israel zu gehen?
Sigi Atzmon: Warum nicht?

Unser Gespräch findet in den wundervollen Räumlichkeiten der Synagoge statt. Hier wird gerade eine Ausstellung aufgebaut und kürzlich ist das neue Kulturprogramm des Freundeskreises erschienen.

Bild: Mara Kutzner

Was steht auf dem Programm und auf was freuen Sie sich besonders?
Sigi Atzmon: Die Ausstellung „Feibelmann muss weg“ ist bis zum 30. Juni in der Synagoge ausgestellt. Sie zeigt das Schicksal und den antisemitischen Vorfall des Jakob Feibelmann aus Memmingen. Alle unsere Veranstaltungen beschäftigen sich mit der jüdischen Geschichte und gegen Antisemitismus. Die Ausstellung wird eingerahmt von zwei Vorträgen zum Thema Antisemitismus und Hate Speech (Hassrede). Im September bieten wir eine Wanderung von Hainsfarth nach Steinhart an. Wir erkunden die jüdischen Orte am Riesrand. Am 9. November wird auch in diesem Jahr an die Reichspogromnacht erinnert.

Liebe Frau Atzmon, vielen Dank für dieses Gespräch!